Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 2 (Calvados)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Calvados

La tapisserie de Bayeux, der Teppich von Bayeux, wird von manchen als mittelalterlicher Urcomic bezeichnet. Bei dem 68 Meter langen und 50 Zentimeter hohen, mit farbigen Wollfäden bestickten Leinen aus dem 11. Jahrhundert handelt es sich um eine bildhafte Geschichtsdarstellung, die in 73 Szenen die Ereignisse rund um die Schlacht von Hastings mit der normannischen Unterwerfung Englands durch Wilhelm den Eroberer erzählt – mit verblüffenden und oft witzigen Details.

Der Teppich von Bayeux. © B. Busch
© B. Busch

In der weitgehend gotischen Kathedrale von Bayeux, für die der Teppich einst angefertigt wurde, gibt es einen Tympanon, der dem Märtyrer Thomas Becket (1118 – 1170), Erzbischof von Canterbury, gewidmet ist. Erinnert hat mich das an eines meiner Abiturthemen im Leistungskurs Französisch, das Schauspiel Becket ou l’Honneur de Dieu von Jean Anouilh (1910 – 1987), uraufgeführt 1919, das mir damals sehr gut gefallen hat – ganz im Gegensatz zum zweiten literarischen Schwerpunkt, Candide von Voltaire (1694 – 1778).

Auch wenn das erstmals 1938 erschienene Buch La Marie du Port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) beim Verlag Gallimard in der Reihe folio policier erscheint, ist es doch ausnahmsweise kein Krimi. Georges Simenon schrieb den Roman, der bei seinem Erscheinen auf allgemeine Begeisterung stieß, und mit dem er eine neue Stufe in seiner künstlerischen Entwicklung zu erreichen hoffte, 1937 während eines Aufenthalts im Hotel de l’Europe in Port-en-Bessin, wo er auch größtenteils spielt. Besonders die Szenen am Hafen und an der Drehbrücke mit der stimmungsvollen Atmosphäre, aber auch die sehr geheimnisvolle Protagonistin haben mir beim Lesen vor Ort Spaß gemacht.

Port-en-Bessin. © B. Busch

Deauville, international bekanntes Seebad an der normannischen Küste mit großem Yachthafen, Edelbutiken, fast endloser Strandpromenade „Les planches“, nostalgischen Strandkabinen, Pferderennbahn, Casino sowie Villen und Luxushotels aus der Belle Époque, zieht schon lange viel Prominenz an, unter ihnen die Maler des Impressionismus.

Der große französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 – 1880) war ein Stammgast, als Deauville noch ein einfaches Dorf war. Seine Eltern besaßen hier einen Bauernhof, den er 1875 verkaufte.

Wesentlich mondäner war Deauville durch die Eisenbahnverbindung nach Paris schon längst, als der britische Romancier, Lyriker, Kritiker und Verleger Ford Maddox Ford (1873 – 1939) seinen Lebensmittelpunkt ab 1922 nach Frankreich verlegte, später zusätzlich in die USA. Er starb in Deauville. Von ihm stammt die Theorie der Seite 99, die man von einem Buch lesen muss, um sich ein Bild vom Ganzen zu machen. Tatsächlich nutze ich diese Idee von Zeit zu Zeit erfolgreich.

Deauville. © M. Busch

Nur durch das Flüsschen Touques von Deauville getrennt, ist Trouville-sur-Mer zwar älter und traditionsreicher, jedoch nicht so mondän wie die berühmte Nachbarin. „Nach Deauville kommt man, um sich zu zeigen; nach Trouville kommt man, um zu leben“, sagt der Volksmund.

Gustave Flaubert (1821 – 1880) erlebte am Strand von Trouville-sur-Mer einen fulminanten „Coup de foudre“, als er im Alter von 15 Jahren der 26-jährigen verheirateten Elisa Schlésinger begegnete. Diese unerfüllte Liebe beschäftigte ihn lebenslang und fand Eingang in sein Werk, unter anderem in L’éducation sentimentale. Eine Statue Flauberts am Ufer der Touques blickt in Richtung des Hotels der Verehrten und erinnert an die Begegnung.

Das direkt am Strand gelegene ehemalige Hotel Les Roches Noires aus dem Jahr 1866, das 1959 in Privatappartements umgewandelt wurde, war ein beliebter Urlaubsort für Persönlichkeiten wie Marcel Proust (1871 – 1922) und Marguerite Duras (1914 – 1996). Proust weilte ab 1885 mehrere Sommer in Trouville, wechselte aber nach der Eröffnung des neuen Grand Hotels ab 1907 bis 1914 ins nur 20 Kilometer entfernten Cabourg. Diesem Seebad setzte er in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit unter dem Namen „Balbec“ ein Denkmal, allerdings ergänzt durch die Felsen von Trouville.

Les Roches Noires in Trouville-sur-Mer. © M. Busch
Trouville-sur-Mer, Strand. © M. Busch

Wie an viele andere Berühmtheiten erinnert auch an Marcel Proust heute eine Bank am Strand.

Marguerite Duras kaufte 1963 ein Appartement in Les Rouges Noires und verbrachte ihre letzten beiden Lebensjahrzehnte berühmt, vereinsamt und schwer alkoholabhängig hauptsächlich hier. Ab 1980 bis zu ihrem Tod leistete ihr der junge homosexuelle Philosophiestudent Yann Andréa (1952 – 2014) Gesellschaft, Möchtegern-Dichter, Bewunderer, Muse, Sekretär, Fahrer, Vertrauter, Hausmädchen, letzter Geliebter und Krankenpfleger. Die Treppe neben dem ehemaligen Hotel ist heute nach ihr benannt und eine Tafel erinnert an sie: „Regarder la mer est regarder le tout“. Ihre Bücher habe ich vor vielen Jahren mit Begeisterung gelesen, zuletzt dann 2018 die Biografie von Jens Rosteck mit dem Titel Marguerite Duras. Der Besuch in Trouville motiviert dazu, ihr Werk wiederzuentdecken.

Trouville-sur-Mer und Marguerite Duras. © M.&B. Busch

Das „Maison des Associations“ in Trouville-sur-Mer trägt zu Ehren von Stéphane Hessel (1917 – 2013) dessen Namen. 2010 landete der Widerstandskämpfer, KZ-Überlebende, Diplomat und Essayist mit seinem schmalen politischen Manifest Empört euch! einen internationalen Bestseller. Während der letzten 20 Jahre seines Leben verbrachte er viel Zeit in seinem eigenen Appartment in der Stadt, die für ihn zum Zufluchts- und Rückzugsort wurde.

„Seltsame und faszinierende Menschen am Strand, in den Hotels und auf den Promenaden“ sind der Stoff  von Undine Gruentner (1952 – 2003) in ihrem Erzählband Sommergäste in Trouville aus dem Jahr 2003, den ich unbedingt bald lesen möchte.

Ab 1859 hielt sich der Dichter Charles Baudelaire (1821 – 1867), der Verfasser von Les Fleurs du mal, nach dem Tod des verhassten Stiefvaters mehrmals länger in Honfleur bei seiner Mutter auf, deren Haus heute verschwunden ist. Einige seiner berühmten Gedichte sind in Honfleur entstanden, unter anderem Le Port, veröffentlich 1869 in der Sammlung Le Spleen de Paris: „Un port est un séjour charmant pour une âme fatigueé des luttes de la vie…“. Während seiner Besuche in der Stadt, die er mehr liebte als sie ihn, verbrachte er viel Zeit am Hafen.

Honfleur. © M. Busch

Nur etwa fünf Kilometer vom Trubel von Honfleur entfernt liegt abgeschieden das malerische Dörfchen Barneville-la-Bertrand. Etwas außerhalb davon findet man Le manoir de Breuil, einen alten normannischen Herrensitz aus dem 18. Jahrhundert, den Françoise Sagan (1935 – 2004) mit einem Casinogewinn im nahen Deauville 1958 kaufte. Sie behielt ihn bis zu ihrem Tod 2004 in einem nahen Krankenhaus. Die vorherigen Besitzer und Bewohner waren Vater und Sohn Guitry, der Schauspieler Lucien Guitry (1860 – 1925) und Sacha Guitry (1885 – 1957), ebenfalls Schauspieler, aber auch Filmregisseur, Dramatiker und Drehbuchautor. Die Romane von Françoise Sagan habe ich als Jugendliche verschlungen, vor allem Bonjour tristesse von 1954, das 2017 von Rainer Moritz neu übersetzt wurde, und Ein gewisses Lächeln von 1955. In jüngerer Zeit hat mir Lieben Sie Brahms aus dem Jahr 1959 gut gefallen.

Le manoir de Breuil und Françoise Sagan. © M&B. Busch

 

Teil 3 des Beitrags gibt es hier.

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